Interview

Bullenmarkt ist kein Selbstläufer – INTERVIEW MIT ANDRÉ RAIN, STOCK3

ideas: KI ist nach wie vor das große Thema. Sehen Sie ein Ende des Hypes?
André Rain: Künstliche Intelligenz ist auch 2024 das bestimmende Thema an den Aktienmärkten, die Bäume wachsen hier weit hinauf in den Himmel. Das erste Halbjahr ist beinahe beendet und der beeindruckende Bullenmarkt seit Anfang 2023 dauert an. Keine Topbildung im Frühjahr, kein »Sell in May«. In einem US-Wahljahr ist das keineswegs ungewöhnlich, es ist innerhalb des vierjährigen US-Präsidentschaftszyklus statistisch das zweitbeste Jahr nach dem Vorwahljahr. Aber zumindest eine Verschnaufpause sei den Bullen gegönnt, seit März pendelt sich der Dow Jones-Index in der Summe seitwärts ein.

Beim Technologieindex Nasdaq 100 oder dem marktbreiten S&P 500 konnten sich Anleger in den vergangenen Monaten über satte Gewinne freuen. Kann das so weitergehen?
Getrieben von den großen Big-Tech-Firmen und Halbleiterwerten ziehen beide von einem Allzeithoch zum nächsten. Mehr als ein Viertel der Gewichtung im 500 Werte umfassenden S&P 500-Index fällt derzeit auf die sieben größten Aktien. Genau diese Unternehmen sind es auch, die derzeit im Hype um Künstliche Intelligenz ganz vorne mitmischen. Diese Aktien sind die Zugpferde der laufenden Rally, darunter auch NVIDIA, Microsoft oder die Google-Mutter Alphabet.

Zugegeben, die genannten Aktien sind bereits sehr weit geklettert und Einstiege auf dem sehr hohen Niveau sind nicht mehr unbedingt attraktiv, doch Ansätze einer Trendumkehr fehlen bislang komplett. Bis dahin kann die Übertreibungsphase auf der Oberseite problemlos noch weiter anhalten. Korrekturen werden kommen, vielleicht sogar deutliche Kursabschläge, unklar ist nur, wann. Bevorzugt wäre der Zeitraum zwischen August und November, bevor zum Jahresende hin dann die Bullen wieder im Vorteil wären. Und solche Kursrücksetzer könnten bei den starken Outperformern durchaus attraktive Einstiegschancen bieten.

Dennoch steigen nicht alle Aktien, oder?
Der Bullenmarkt ist kein Selbstläufer, nicht die ganze Marktbreite kann von der Euphorie im Technologiesektor profitieren. Einzelne Branchen zeigen sich nicht nur schwächer, sondern verharren kollektiv im Bärenmarkt. Darunter zählen in Europa besonders Stahlwerte oder auch Chemie- und Luftfahrtwerte. Und auch der Automobilsektor präsentiert sich sehr wechselhaft, einem starken Jahresstart folgten zuletzt wieder ordentliche Kursverluste. Wer in diesem Jahr also auf die falschen Branchen gesetzt hat, hat wenig Freude mit Aktien gehabt.

Vielmehr ist das erste Halbjahr 2024 ein perfektes Beispiel, warum Diversifizierung im Depot ein großer Erfolgsfaktor sein kann. Das gilt nicht nur für die Streuung des Risikos auf verschiedene Assetklassen, sondern auch für Spekulationen auf verschiedene Trendrichtungen bei Einzelaktien. Wer in beide Richtungen handelt und den Trends der Basiswerte folgt, steht in diesem Jahr klar auf der Gewinnerseite. Die schwachen Aktien mit stark bearisher Ausrichtung der Charts zu shorten und gleichzeitig die Outperformer, vorzugsweise Technologiewerte, zu kaufen, war seit dem vergangenen Jahr genau die richtige Handlungsweise. Mit dieser Vorgehensweise eröffnet sich generell die Möglichkeit, in vielen verschiedenen Marktphasen eine positive Performance zu erzielen. Diese Strategie ist ein elementarer Baustein meines Tradings.

Wagen wir noch mal einen Blick zurück auf die Märkte. Was sind 2024 bislang Ihre Highlights?
Ein anderer großer Outperformer ist in diesem Jahr Gold. Die seit Ende 2022 andauernde Rally, die 2023 durch eine heftige Korrektur im Sommer unterbrochen war, läuft wieder auf Hochtouren und befördert den Preis des Edelmetalls auf neue Rekorde. Jetzt läuft eine mehrwöchige Konsolidierung auf hohem Niveau. Hinweise auf eine Topbildung gibt es hier bislang nicht.

Pure Langeweile herrscht beim Euro, der gegenüber dem US-Dollar seit dem vergangenen Jahr seitwärts pendelt. Wir sehen eine absolut trendlose Marktphase, in der neue Handelsimpulse abgewartet werden müssten. Unter den großen Währungen der Welt sticht in diesem Jahr besonders der schwache japanische Yen heraus. Gegenüber dem US-Dollar erreichte er im Zuge der seit 2012 anhaltenden Abwertungsphase beinahe wieder das Tief aus 1990.

Und bei den Aktien? Zuletzt war ja die Apple-Aktie in aller Munde.
Nachdem es zuletzt um das Thema Künstliche Intelligenz bei Apple etwas ruhig geworden war, erklärte der iPhone-Hersteller jetzt, die Nutzer über den digitalen Assistenten Siri mit dem Chatbot ChatGPT von OpenAI zu verknüpfen. Diese Anwendung soll im Laufe dieses Jahres als Teil einer Reihe neuer KI-Funktionen eingeführt werden. »Apple Intelligence« soll die neue KI-Ebene für die Betriebssysteme der Produkte werden. Die Anleger reagierten euphorisch, bei der Aktie kam es zu einer regelrechten Kursexplosion von in der Spitze 14 Prozent innerhalb von zwei Handelstagen. Apple ist damit wieder der nach Marktkapitalisierung wertvollste Konzern der Welt und verdrängt Microsoft vom Thron. Mit dieser dynamischen Kursbewegung gelang der Apple-Aktie der Ausbruch aus der seit Juli andauernden Seitwärtskonsolidierung. Das Verlassen des Rechtecks als bullishe Fortsetzungsformation dürfte ein charttechnisches Kaufsignal darstellen und könnte nun eine größere Aufwärtswelle einleiten. Erste Ziele lägen bei rund 260 bis 270 US-Dollar, langfristig wäre Platz bis zur Pullbacklinie seit 2012 bei 335 bis 370 US-Dollar, je nach Zeitpunkt des Kontakts.

Im langfristigen Kontext wäre es nach der Auflösung der großen bullishen Flagge der Jahre 2022 und 2023 jetzt das zweite Kaufsignal im Big Picture. Kursrücksetzer könnten ab jetzt und insbesondere beim Erreichen des Ausbruchslevels bei rund 198 US-Dollar aus charttechnischer Sicht mögliche Einstiegschancen bieten. Wird der momentane Ausbruch allerdings rückgängig gemacht, könnte es unterhalb von 180 US-Dollar zu Abwärtskorrekturen in Richtung 166 oder 151 bis 166 US-Dollar kommen. Erst wenn der Wert nachhaltig unter 150 US-Dollar zurückfällt, würde sich das Big Picture stark eintrüben, ein größerer Bärenmarkt käme dann ins Gespräch.

Vielen Dank für das Gespräch.